„Spirit ist stärker als Geld“

Von Sarah Kleiner, überarbeitete Fassung, erschienen 2017 im ORIGINAL Magazin, Ausgabe 11, Foto: Julian Haas.

„Weißt du, dass heute vor 36 Jahren John Lennon erschossen wurde?“, sagt Heini, nachdem er sich an seinem Schreibtisch niedergelassen und die Hände hinter dem Kopf verschränkt hat. „Ich habe mir das deswegen gemerkt, weil ich an dem Tag mein erstes Geschäft aufgesperrt habe.“ Am 8. Dezember 1980 war das. Staudinger hat damals in der Lange Gasse im Wiener Gemeindebezirk Josefstadt einen Schuhladen eröffnet. Die Entscheidung, ins Schuhgeschäft einzusteigen, traf er spontan. Die Schuhe eines Bekannten haben ihn damals so beeindruckt, dass er die in Dänemark produzierten „Earth Shoes“ auch in Österreich vertreiben wollte.

Mittlerweile verkauft Heinrich „Heini“ Staudinger seit mehr als 36 Jahren Schuhe. Er ist Eigentümer und Geschäftsführer der österreichischen Firma GEA, die auch die Linie „Waldviertler“ herstellt – und er ist ein Verbrecher. Zumindest sieht das die österreichische Justiz und Finanzwelt so. Mit der finanziellen Unterstützung privater Geldgeber hat er ein aussterbendes Handwerk zurück nach Österreich geholt. Aus dem kleinen Laden in der Josefstadt entwickelte sich eine Firma, die heute rund 290 Mitarbeiter beschäftigt. Sie arbeiten in den 53 Filialen in Österreich, der Schweiz und Deutschland, oder in den Werkshallen im niederösterreichischen Schrems. Staudinger gründete dort 1984 die „Waldviertler Schuhwerkstatt“ und produziert seine Schuhe seither selbst. Die Gegend im nördlichen Waldviertel wurde damals noch als wirtschaftliche Krisenregion eingestuft, heute ist sie ein Zentrum der Wertschöpfung und ein Sinnbild für nachhaltiges Wirtschaften.

„Alle großen Entscheidungen meines Lebens sind nicht passiert, weil ich fest nachgedacht habe“, sagt Heini. „Irgendwie ist das dann trotzdem ein ganz großer Weichensteller meines Lebens gewesen“, sagt er nachdenklich. Er spricht leise, ruhig, mit tiefer Stimme und in oberösterreichischem Dialekt. Sein Büro neben den Schremser Werkshallen, das gleichzeitig sein Wohnzimmer ist, ist hell und gemütlich, eine Glasfront eröffnet einen Ausblick in den Garten. Die Geschichte hinter den Schuhen, Heini Staudingers Geschichte, zeugt davon, was man mit Solidarität, Überzeugung und Fleiß erreichen kann.

Heinrich Staudinger stammt ursprünglich aus Vöcklabruck im oberösterreichischen Hausruckviertel, aufgewachsen ist er in Schwanenstadt. Nach seinem Schulabschluss begann er, Journalismus, Theologie und Politikwissenschaften zu studieren und brach das Studium für eine Reise nach Tansania ab. Staudingers „University of Economics“, wie er es nennt, war die Greißlerei seiner Eltern. Obwohl die beiden nicht viel Geld zur Verfügung hatten, beauftragten sie immer einen Maler für die Sanierungsarbeiten im Geschäft – weil er wiederum Kunde in der Greißlerei war. „Diese Grundhaltung pflegt man heute nicht mehr so, obwohl wir alle Sehnsucht haben, nach dem leben und leben lassen“, sagt Heini. „Da hilft nur ein Rezept, wenn man diesen Anstand genießen will, nämlich selbst anzufangen, ihn zu praktizieren – egal, ob andere mitmachen oder nicht.“

Nachdem Staudingers Hausbank ihm 2003 wegen neuer, strengerer Auflagen keinen Kredit mehr geben wollte, hat er die Initiative ergriffen. Er löste alles auf – Sparbücher, private Konten, Bausparer, seine Lebensversicherung. „Ich bin durchgedreht darüber, wie befreiend das war“, sagt er. „Das hat mir wahnsinnig geholfen, im Geld ein tüchtiges und wichtiges Werkzeug zu erkennen – aber nicht mehr.“ Staudinger sammelte von rund 200 Freunden, Verwandten und GEA-Kunden Spenden in Höhe von drei Millionen Euro, um das Weiterbestehen seines Unternehmens zu sichern. Die Finanzmarktaufsicht (FMA) wird auf Staudingers Finanzierungsmodell aufmerksam und wirft ihm illegale Bankgeschäfte vor.

Innerhalb einiger Wochen sollte Staudinger eine Strafe von 2.600 Euro begleichen und das Geld an die Spender zurückzahlen. Staudinger wehrt sich. Nach einer Verurteilung vor dem Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof landete der Fall vor einem unabhängigen Verwaltungssenat. Nach eineinhalb Stunden Verhandlung erteilte der Richter Staudinger das Schlusswort. „Ich habe ihm gesagt, es sei mir egal, wie er entscheidet. Ich spüre kein Unrechtsbewusstsein und würde die Strafen nicht bezahlen“, sagt er. Im Juni 2015 kamen dann vier Exekutoren der FMA gleichzeitig in vier GEA-Filialen, um sich das Bußgeld aus den Kassen der Läden zu holen. „Einer der Verkäufer hat sich geweigert, die Kassa zu öffnen und mich angerufen. Ich habe ihm gesagt, er solle ihnen das Geld geben, dieses Match sei verloren“, sagt Staudinger.

Der Kreditfall Staudinger machte ihn, wie er selbst sagt, zum bekanntesten Schwerverbrecher Österreichs. Heini Staudinger machte Krawall und mit viel Medien- und Öffentlichkeitsarbeit auf seine Situation aufmerksam. Bei seinem Kampf gegen die Hoheitsgewalt der Finanzbranche hat er dabei breite Unterstützung von vielen Seiten bekommen. Kabarettisten, Schauspieler, Politiker – viele solidarisierten sich mit dem „Schuhrebell aus dem Waldviertel“. „Wenn Bankdirektoren oder Bankbeamte unsere Schuhe tragen, dann ist das ein ziemlich deutliches Statement, dass sie beim Konflikt mit der FMA mir emotional näher sind als dem Finanzsystem“ sagt Heini und lacht laut.

Seine Rebellion hat tatsächlich eine Veränderung bewirkt, von der inzwischen viele heimische Unternehmer profitieren. Seit 1. September 2015 ist das „Alternativfinanzierungsgesetz“ (AltFG) in Kraft. „Es besagt im Prinzip, dass all das, was mir verboten war, jetzt für alle erlaubt ist. In Wirklichkeit ist das der große Erfolg dieses Matches“, sagt Heini. „Diese Methodik, wo Leute Privatgeld in ein Projekt ihres Vertrauens stecken, ist eine höchst demokratische Angelegenheit“, sagt Heini. Mit Justizminister Brandstätter ist Staudinger heute per du, für die Uraufführung des Films „Das Leben ist keine Generalprobe“, der die Entstehung der „Waldviertler“ und den Konflikt mit der FMA behandelt, kam er sogar nach Schrems. In seiner Eröffnungsrede hat Staudinger ihn willkommen geheißen und sich für das neue Gesetz bedankt. „Ich sagte, dass wir auf den Geschmack gekommen wären und dass wir jetzt noch mehrere Gesetze am Speisezettel hätten, die wir ändern möchten“, sagt er.

In seiner bescheidenen Unterkunft ist es dunkel geworden, Heini zündet eine Kerze an. Sie hüllt das Sammelsurium aus Magazinen, Zetteln und Büchern am Schreibtisch in ein warmes, flackerndes Licht. „Die konsequente Botschaft lautet: Wir müssen Schluss machen mit dem Bankenwesen, wie es ist“, antwortet Heini, nachdem er sich die Lesebrille abgenommen hat, auf die Frage, was er Wirtschaftstreibenden gerne mitgeben möchte. Es sei falsch, diesem System weiterhin Erfolg zu wünschen, weil es unsere Lebensgrundlage zerstöre. „Spirit ist stärker als Geld“, sagt Heini Staudinger. „Das heißt auch, dass man mich wegen des Geldes nicht in jede Ecke verbiegen kann. Ein Beispiel dafür hat hier seinen Anfang genommen.“

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